Was bedeutet eigentlich „Raum halten?“, ODER: „Wenn du nicht weiterweisst, bilde einen schönen Kreis“

Manchmal lenkt das Leben einen Prozess in ungeahnte Richtungen und ermöglicht tiefe kollektive Einsichten, wenn wir bereit sind hinzuhören. So möchte ich ein Erlebnis teilen, welches in einem Modul der Facilitation-Ausbildung für uns alle (Leiterinnen und Teilnehmer*innen) zutiefst berührend, bereichernd und lehrreich war:

Am letzten Nachmittag unseres 3-tägigen Moduls zum Thema „Dialog“ stand plötzliche eine Teilnehmerin (nennen wir sie Beate) sichtbar im Schock vor mir und brachte unter Tränen hervor, dass sie gerade erfahren habe, dass Ihre geliebte Großmutter verstorben sei. Alle anderen standen im gerade leergeräumten Raum – wir wollten mit einer Embodiment-Übung beginnen. Sofort war der Schock im ganzen Raum spürbar. Meine Ausbildungs-Partnerin kümmerte sich um Beate und ging mit ihr spazieren, ich blieb mit der Gruppe zurück. Was jetzt tun?

  • Wir holten zunächst die Stühle wieder in den Raum, damit wir uns setzen konnten
  • Ich stellte spontan eine Kerze zu dem Blumenstrauß in die Mitte und zündete sie an
  • Wir atmeten alle etwas durch, einzelne ließen ihren Tränen freien Lauf, die Energie im Raum war schwer und ich fragte mich „was kann ich jetzt tun, um dieser Situation zu entsprechen?“
  • Ich hatte in dem Moment keine Ahnung. Also fragte ich die Gruppe: „was braucht ihr jetzt, was wollen wir jetzt tun?“ – die Antwort: „ich brauche jetzt etwas Zeit für mich oder zu zweit, ich möchte gerne etwas spazieren gehen“. Sofort war klar, dass das eine gute Idee ist – so sind einige zu zweit losgegangen, andere haben sich still in den Raum gesetzt, meditiert oder geschrieben.
  • Ich hatte Zeit, mit meiner Partnerin und einer Assistentin zu überlegen, wie wir den Nachmittag gestalten können. Klar war: wir können nicht zum „ursprünglichen Plan“ zurückkehren UND in der Situation steckt eine Lernchance, die wir nutzen können….

 

Hier ist unser Prozess, durch den wir an diesem Nachmittag gegangen sind, nachdem alle wieder zurück waren:

  • 5 min Journaling (schreiben, ohne abzusetzen) zu der Frage: „Was nehme ich gerade wahr und wie reagiere ich darauf?“
  • Thinking Pairs (2 x 5 min)
  • Conversation Café in 6er Gruppen mit der Frage „Was bedeutet eigentlich Raum halten?“ (40 min)
  • Kollektives Mindmapping zu der Frage: „Was habe ich heute Nachmittag über Facilitation gelernt (35 min). Hier ein kleiner Auszug der wichtigsten Erkenntnisse:
    • Mit dem gehen, was ist – ich brauche keine Angst davor zu haben
    • Raum für Emotionen, Weinen und Lachen, das schafft Verbindung: wir wollen das ganze Leben!
    • Die richtigen Fragen stellen
    • Wenn es tief geht, sind die Höhen viel aussichtsreicher
    • Raum entstehen lassen = einfach da sein, 100% präsent
    • Wir sind der Raum
    • Struktur kann Sicherheit und gleichzeitig Freiheit geben, das ermöglicht es jeder/jedem, sich zu zeigen
    • Was gerade im Raum geschieht, ist wichtiger als das, was du geplant hast – Mut zur Improvisation
    • Rahmenbedingungen kontrollieren (und nicht Menschen)
    • Immer wieder prüfen: „was braucht die Gruppe jetzt“ – vertraue der Gruppe
    • Alles darf sein – was auch immer geschieht, es ist das Einzige, was geschehen kann – alles ist Wasser auf unsere Mühlen

Sichtlich tief bewegt sind nach der Abendrunde alle nach Hause gegangen, Beate sagte, dass sie sich keinen besseren Kontext für sich in dieser Situation hätte wünschen können und wir alle haben tief gelernt. Danke, Leben!